Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Analyse zur Richtungswahl in der TürkeiTürkinnen und Türken verteidigen die Demokratie – für alle

Druck auf Erdogan: Frauendemonstration in Istanbul am 8. März 2023. 

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Recep Tayyip Erdogan ist ein zielstrebiger und fleissiger Mann. Insofern ist es überraschend, dass die Türkei auf dem Weg in die Autokratie noch nicht weiter ist. Erdogan regiert seit zwei Jahrzehnten, in der Zeit hat er sich grösste Mühe gegeben, ein neues Land zu schaffen. Eines nach seinen Vorstellungen, unter seiner Kontrolle. Er hat Oppositionspolitiker einsperren und Zeitungen schliessen lassen, er hat den halben Staatsapparat ausgewechselt, er lässt nahezu unbeschränkt verhaften, anklagen und verurteilen. Wer immer in der Türkei gegen ihn aufsteht, muss mit Strafe rechnen, oft mit Gefängnis. Trotzdem passiert es. 

Anfang März zum Beispiel, als Istanbul mal wieder die türkische Version des Weltfrauentags erlebte. Wie jedes Jahr baute die Polizei die Stadt zur Festung aus. Demos waren, wie immer, verboten. Sie fanden, wie immer, trotzdem statt. Im Viertel Cihangir, in der Nähe des Taksimplatzes, versammelten sich Hunderte Frauen.

In den Stadien skandieren sie: «Regierung, tritt zurück!»

Jede von ihnen riskierte eine Festnahme, für viele blieb es nicht bei der Drohung. Trotzdem riefen sie, was man auch auf den Tribünen der Fussballclubs Galatasaray und Fenerbahçe aktuell hört: «Regierung, tritt zurück!» Unter den Frauen befand sich die Istanbuler Co-Vorsitzende der Oppositionspartei CHP, Canan Kaftancioglu. Sie hat seit Jahren Politikverbot. Da stand sie nun auf der Strasse und sagte mit einer Sicherheit, als hätte die Opposition schon gewonnen: «Nächstes Jahr am Taksim!» Dort, gleich neben dem Gezipark, gilt Demonstrationsverbot. 

Nächstes Jahr am Taksim. In der Türkei werden manche gerade euphorisch. Vielleicht zu früh. Aber allein dass Erdogan fürchten muss, die Wahlen am 14. Mai zu verlieren, ist erstaunlich. Selbst in seinem Umfeld, heisst es, schätzt man seine Lage pessimistisch ein, die meisten Umfragen sehen Erdogan mit zweistelligem Abstand hinter seinem Herausforderer Kemal Kiliçdaroglu.

Liegt in den Umfragen vorn: Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu bei einem Wahlkampfauftritt in Istanbul. 

Die Türkei ist nie das fromme, dem Präsidenten hörige Land geworden. Nicht, weil Erdogan in Wahrheit doch demokratisch veranlagt wäre. Nein, weil die Türkinnen und Türken jahrelang nicht nachgelassen haben. Erdogans Gegner haben den Gegendruck aufrechterhalten. Sie gingen am Frauentag demonstrieren und auch an vielen anderen Tagen. Sie liessen sich gewisse Dinge nicht nehmen, Twitter etwa, also den Zugang zu Information. Die Opposition gewann zwar jahrelang nicht, blieb aber bestehen und vereinte sich zuletzt. Journalisten gründeten ihre geschlossenen Zeitungen neu, als Onlineportale. Selbst am Kiosk liegen noch immer die «Cumhuriyet» oder die «Sözcü» aus, die täglich schreiben, was Erdogan falsch macht.

Türkische Jugend ist weniger fromm als früher

Der Präsident kennt sein Volk gut. Er ging immer so weit, wie er konnte. Die Alkoholsteuer hat er wieder und wieder erhöht, vor Jahren hat er dafür gekämpft, dass vor den Istanbuler Bars die Aussentische verschwinden. Heute sitzen die Menschen ihr teures Bier trinkend an der frischen Luft und sprechen dabei ziemlich offen über Politik. Geht man durch die Stadt, hat man nicht den Eindruck, die Türkei stehe vor der endgültigen Islamisierung. 

Das ist kein Phänomen nur der Grossstädte. Studien zeigen, dass die türkische Jugend heute weniger fromm ist als früher. Während der Erdogan-Jahre ist, auch durch den neuen Wohlstand, eine liberale Generation entstanden. Fährt man durch Anatolien, trifft man säkulare Studentinnen. Auch in den Hochburgen der AKP. Am Weltfrauentag sammelten sich Demonstrantinnen nicht nur in den Metropolen, sondern auch im Erdbebengebiet, zwischen den zerstörten Häusern von Antakya.

Nein, noch hat Erdogan nicht verloren. Natürlich gibt es noch immer weite Gegenden, in denen allein das Wort des Präsidenten und das des lokalen Imams gelten. Der türkische Präsident hat einen Kult um sich geschaffen, seine Anhänger verehren ihn fast gottgleich. Er hat ihnen erlaubt, sich nicht entschuldigen zu müssen für ihre Lebensweise, für ihre Religiosität. Wenn man so will, war Erdogan damit der Prototyp. In den USA erteilte Donald Trump seinen Fans eine ähnliche Absolution: Ihr seid okay so, wie ihr seid. Selbst eine erfahrene Demokratie wie die amerikanische tut sich schwer, diesen Kult zu überwinden. 

«Die türkische Bevölkerung verdient, dass Europa auf sie zugeht.»

Sollte das nun den Türkinnen und Türken gelingen, sollten sie einen Regierungswechsel schaffen, dann hätten sie der Welt einen Dienst erwiesen. Sie hätten vorgemacht, wie man eine Demokratie verteidigt. Wie man sie sich zurückholt. Es klingt banal, es ist verdammt schwer: mit dem Mut vieler, immer wieder auf die Strasse zu gehen, mit regelmässig hoher Wahlbeteiligung. Mit ausdauernder Hingabe zum freiheitlichen Lebensstil.

Diese Menschen verdienen, dass Europa auf sie zugeht. Sie verdienen endlich vereinfachte Visa oder sogar, was etwa für Schweizerinnen und Schweizer in der Türkei selbstverständlich ist: Visumsfreiheit für Aufenthalte bis 90 Tage. Langfristig wären Türkinnen und Türken auch eine Bereicherung für die EU.

Newsletter

Der Morgen

Der perfekte Start in den Tag mit News und Geschichten aus der Schweiz und der Welt.